Mutter und Tochter / "Ougenweide"
"Nu ist der küele winter gar zergangen
diu nacht ist kurz, der tac beginnet langen:
sich hebet ein wunneclîchiu zît
diu al der werlde vreude gît,
baz gesungen nie die vogele ê noch sît.
Kómen ist úns ein liehtiu ougenweide:
man siht der rôsen wunder ûf der heide,
die bluomen dringent durch daz gras.
wie schône ein wise getouwet was,
dâ mir mîn geselle zeinem kranze las!
Der walt hât sîner grîse gar vergezzen,
der meie ist ûf ein grüenez zwî gesezzen,
er hât gewunnen loubes vil.
bint dir balde trûtgespil:
dú weist wol daz ich mit einem ritter wil."
Daz gehôrte der mägde muoter tougen.
sî sprach: "behalte hinne vür dîn lougen.
dîn wankelmuot ist offenbâr.
wint ein hüetel um dîn hâr.
dú muost âne die dînen wât, wilt án die schar."
"Muoter mîn, wer gap iu daz ze lêhen
daz ich iuch mîner waete solde vlêhen?
dérn gespunnet ir nie vadem.
lâzet rouwen solhen kradem.
wâ nu slüzzel? sliuz ûf balde mir daz gadem."
Diu wât diu was in einem schrîne versperret.
daz wart bî einem staffel ûf gezerret.
diu alte ir leider nie gesach.
dô daz kint ir kisten brach,
dô gesweic ir zunge, daz sî nicht ensprach.
Dar ûz nam sî daz röckel alsô balde.
daz was gelegen in mager kleinen valde.
ir gürtel was ein rieme smal.
in des hant von Riuwental.
warf diu stolze maget ir gickelvêhen bal.
Text: Neidhart von Reuental (Bayern/Österreich um 1200)
Quelle: Deutscher Minnesang, Reclam Stuttgart 1954
Melodie: Ougenweide (O. Casalich, W. v. Henko, G. Back)
Quelle: Das kleine dicke Liederbuch
Ougenweide haben die ersten drei Strophen dieses Liedes als ihren "Titelsong" bekannt gemacht.
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